Eine weit verbreitete Unwahrheit über das Leben auf dem Land lautet, dass man dort entschleunigt. Meine Erfahrung ist eine andere: wer auf dem Land lebt, muss sein Tempo beschleunigen. Gemächlich gehen es hier allenfalls die Kühe und Schafe auf den Weiden an. So sie nicht schlafen oder träge dösen grasen sie genüsslich. In aller Ruhe. Selbst bei ihren hilflosen Versuchen, Bremsen, Stechmücken und Fliegen zu vertreiben, werden sie nicht hektisch. Ihre Schwänze wippen rhythmisch.
Wer entschleunigen will, sollte ein Wellnessprogramm bei Kerzenlicht und spiritueller Musik buchen. Keinesfalls aufs Land ziehen, wo Zeit ein noch kostbareres Gut ist als in der Stadt. Zudem sind die Wege länger, was ebenfalls viel Zeit frisst. Fußläufig erreicht man hier allenfalls den Nachbarn.
Gerne vergessen wird, dass man auf dem Land sehr viel mehr zu tun hat als in der Stadt. Für eine Hauptstädterin wie mich hat sich viel verändert. Das fängt mit so banalen Dingen an, dass man beispielsweise nicht nur angehalten ist, die Termine der Restmüllentsorgung im Kopf zu haben. Man muss die 40-Liter- beziehungsweise 60-Liter- oder gar 120-Liter-Mülltonen vor deren Leerung auch pünktlich auf den Bürgersteig gewuchtet haben. Schneeschippen (gesetztenfalls es fiel welcher) muss man hier selbst. Den Bürgersteig vor dem eigenen Grundstück sauber halten und die dortige Grasfläche mähen. All‘ das, was in der Stadt kommunale Einrichtungen für einen Bürger oder Hausverwaltungen für ihre Bewohner übernehmen, ist eines Dörflers erste Pflicht.
Einen Bruder, der einst in der Stadt für mich auf die Leiter stieg, um eine defekte Glühbirne auszuwechseln, habe ich hier nicht. Auch keinen Hausmeister, der den Stromzähler abliest und keine Putzkolonne, die das Treppenhaus wischt. Hier ist man auf sich selbst gestellt. Und: Haus und Hof fordern immens heraus. Und die Freude am Gärtnern? Die gereicht mir auch nicht immer zur Freude.
Auf dem Land entschleunigt man nicht, man legt einen Gang zu. Der Aufwand freilich, den man treiben muss, um den Alltag zu bewältigen und Haus, Hof und Grundstück instandzuhalten, lohnt sich. Es geht hier zwar nicht gemächlicher, bisweilen aber gelassener zu. Und die Auszeiten, die ich mir an Elbe oder Rögnitz gönne, entschädigen die Herausforderungen allemal.