Noch immer gibt es Verblüffendes in meiner neuen Heimat zu entdecken, die so neu nicht mehr ist. Schließlich bin ich vor nunmehr vier Jahren aus Berlin nach Rosien ins Amt Neuhaus in den idyllischen Elbtalauen gezogen. Im abstrakten Wissen, dass ich zukünftig in einer Gegend mit wechselhafter Geschichte ansässig bin.
Manches erschloss sich mir inzwischen konkreter; jedenfalls bruchstückhaft. Dank vieler Gespräche, die ich mit Einwohnern habe führen dürfen, konnte ich gewisse Vorstellungen dafür entwickeln, wie man im Amt nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 beziehungsweise ab der Gründung der DDR 1949 gelebt hat.
Verblüfft haben mich zuletzt Berichte darüber, dass Neuhaus einst ein Einkaufsparadies gewesen ist. Und das nicht etwa nur für Waren des täglichen Bedarfs. Auch Schmuck, Möbel, feines Tuch, erlesene Tabakwaren und sogar Hüte wurden im Ort zu DDR-Zeiten feilgeboten. Und das auf mehreren Flaniermeilen, die Stadtbummler, Schaufenster-Gucker und qualitätsbewusste Einkäufer aus Nah und Fern angezogen haben.
Wer heute durch den Flecken streift, dem dürfte nicht in den Sinn kommen, dass Neuhaus einstmals so etwas wie ein Konsumtempel gewesen ist. Längst sind die Einkaufsmeilen verödet. Von der merkantilen Bedeutung des Ortes zeugen heute nur noch stumme Zeichen: leere Schaufenster mit stumpfen Scheiben, zugemauerte Ladeneingänge und verblichene Firmen-Schriftzüge.
Einer, der sich bestens auf das bunte geschäftige Treiben besinnt, ist Franz-Jürgen Lehmkuhl aus dem Marschhufendorf Popelau. Seine lebendigen Erinnerungen an den Marktplatz Neuhaus teilt er am 15. März 2024 ab 17.00 Uhr in der Gemeindebücherei Amt Neuhaus mit uns.
Als Kind hat er den Milchladen Schlambor in der Poststraße besucht, sich auf dem Schulweg Brause bei Piper am Kirchplatz besorgt und seine erste Zigarette im Tabakwarengeschäft in der Poststraße gekauft. Einige Höhepunkte in seinem Leben waren ebenfalls mit einem Gang in eines der vielen Neuhauser Geschäfte verknüpft. Die Festkleidung für die Jugendweihe wurde beim Herrenausstatter Brockmann in der Lüneburger Straße anprobiert, die Verlobungsringe im Schmuck- und Uhrenladen von Herrn Kurwahn in der Langen Reihe ausgewählt und im Zeuch- und Möbelgeschäft in der Parkstraße fiel die Entscheidung für das Ehebett. Erlesene Weine lieferte der Spirituosenhandel von Frau Reißner in der Lüneburger Straße und bei Lösch in der Waldstraße wurden die Schuhe neu besohlt.
Ein Highlight – für das außer dem Wochenmarkt am Donnerstag viel mehr geworben werden könnte – ist als Besucher für mich stets der wunderbare Kirchplatz um die Marienkirche. Dieser Platz regt die Phantasie an und sollte, wenn es Einfälle dazu gibt, mehr in den Blick genommen werden.
Eine traurige Entwicklung vieler Orte ist die Verödung zu reinen „Schlaf-Städten“. In diesem Jahr gab es in meinem Ort bereits zwei Geschäftsaufgaben: der Metzger und der Friseur schlossen.
Im Rückblick auf die vergangenen zwanzig Jahre verlor dieser Ort ein Italienisches Restaurant, die Drogerie Schlecker, einen Bäcker, die Bankfilialen von Sparkasse und Volksbank, eine Schuhreparatur, in der Ortsmitte ein Café mit Kuchen, Eis und Backwaren, einen Landgasthof der heute nur noch Übernachtung anbietet und einen Penny Markt. Das Schwimmbad stand bereits mehrfach auf der Liste der Städtischen Streichungen, obwohl auf dem Gelände zwei Kindereinrichtungen und die Grundschule stehen. Es ist noch in Betrieb, hat allerdings an den Wochenenden verkürzte Öffnungszeiten und in den üppigen Schulferien komplett zu. Und nun atmen wir durch und lassen uns den Gedanken verbieten, dass „früher alles besser war“. Nein, nicht alles. Aber vieles, was das Leben in einer Gemeinschaft lebenswert macht.