Es war einmal in Neisor
Es war einmal in Neisor

Es war einmal in Neisor

Meine frei erfundene Geschichte mit realen Bezügen habe ich in der Gemeindebücherei Amt Neuhaus am 16. Februar 2024 vorgestellt. Dem Wunsch des Publikums, diese nachlesen zu wollen, komme ich hiermit gerne nach:

Es war einmal in Neisor

Mutmaßlich ist in Vergessenheit geraten, dass es in Neisor vor etlichen Jahren recht ereignisreich zuging. Der Mentalität der Dorfbewohner entsprach das allerdings nicht. Hektisch und laut wurde es nur, wenn die Ernte eingebracht und das Schützenfest anstand, das alljährlich an drei Sommertagen gefeiert wurde. Ansonsten lebten die Bewohner am liebsten im Einklang mit dem großen Fluss im ruhigen Fahrwasser.

So hatten sie den rauen Zeitläuften und den Besatzern getrotzt, die so häufig wechselten, dass kaum einer wusste, in welchem Machtbereich das Dorf aktuell lag. Und da man beim letzten Umbruch es nicht einmal mehr für notwendig gehalten hatte, die Postleitzahl und Telefonvorwahl den neuen Verhältnissen anzupassen, meinte so mancher, dass das weitab vom Schuss idyllisch gelegene Dorf Niemandsland war.

die Lesung am 16.02.2024 © Sabine Münch

Wäre da nicht dieser ominöse Fund gewesen, der Neisor über Nacht bekannt gemacht hatte. Sogar weltweit, nachdem das Sierk-Blatt damit aufgemacht hatte! Was wiederum dem Tatbestand zuzuschreiben war, dass das Blatt dank investigativem Journalismus, profunder Recherchen und sprachmächtiger Mitarbeiter redaktionell längst international Einfluss nahm. Selbst so renommierte Zeitungen wie die „New York Times“ oder die „Neue Züricher Zeitung“ waren sich nicht zu schade, Artikel aus dem Sierk-Blatt abzudrucken.

Für Aufsehen hatte damals ein vergilbtes engbeschriebenes Dokument gesorgt, dass bei Aufräumarbeiten im Dachboden eines Abrisshauses an der Hunderute aufgefunden worden war. Man hatte es ins Heimatarchiv am Dorfgaben gebracht und Expertenteams hinzugezogen, die sich jedoch keinen rechten Reim auf den Fund machen konnten. Ein heftiger Streit entbrannte, ob das Papier aus Pergament sei oder bereits Zellulose verarbeitet worden war. Auch bei den Schriftzeichen zerbrachen sich die Gelehrten die Köpfe: Hieroglyphen, Gotisch, Kurrent oder Sütterlin? Einigkeit wurde nicht erzielt.

Dann war Gras über die Sache gewachsen. Solange bis sich der neu gewählte Dorfschulze von Neisor auf der ständigen Suche nach Quellen, welche die klammen Kassen seines Ortes zu füllen vermochten, dem mysteriösen Schriftstück annahm. Kontakt wurde zum Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz geknüpft, wo die Handschrift in Ermangelung einer dafür zuständigen Stelle auf Umwegen gelandet war. Da das Archiv im Süden Berlins aus allen Nähten platzte, war man über die Anfrage aus Neisor hocherfreut. Gerne werde zeitnah für eine Rückführung auf Kosten des Dorfes gesorgt.

Leichter gesagt als getan. Denn die Mitarbeiter hatten beim Eintreffen des Schriftstückes nicht vermerkt, in welcher licht- und feuchtigkeitsgeschützten Konversatenkammer das Dokument aufbewahrt wurde. Die Schlamperei im altehrwürdigen Haus wurde dem Berliner Tagespiegel bekannt, dessen Chefredakteur befand, dass seine Zeitung diesen Sumpf nicht allein würde austrocknen können. Und so tat man sich mit dem finanzkräftigen und einflussreichen Sierk-Blatt mit Sitz in Hagenow zusammen, das die Federführung für sich reklamierte. Der Tagespiegel bestand auf seiner Rolle als Presseorgan der deutschen Hauptstadt, konnte sich mit diesem Argument beim mächtigen Regionalblatt jedoch nicht durchsetzen und zog sich beleidigt vom Vorhaben zurück.

Engagiert wurden die besten Enthüllungsjournalisten des Landes, die ihrem Ruf als Spürhunde alle Ehre machten. Nachdem mehr diskriminierendes Material aufgedeckt als vermutet worden war, entschied sich die siebenköpfige Chefredaktion des Sierk-Blatts für eine Artikelserie, die an fünf aufeinander folgenden Tagen unter dem Titel „Saustall Geheimes Staatsarchiv“ erschien und in Auszügen von allen maßgeblichen internationalen Medien abgedruckt wurde. Berlin und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hatten allen Grund, um ihren guten Ruf zu fürchten.

Nun galt es, zu retten, was noch zu retten war. In der eilig anberaumten Bundespressekonferenz am Schiffbauerdamm erläuterte Regierungssprecherin Hebe Streitsteffen den Medienvertretern, die aus aller Welt zusammengekommen waren, mit stoischer Ruhe zunächst die Fakten. Auf die nicht unwesentliche Frage eines Kongolesen, wo denn dieses Neisor liegen würde, folgte betretenes Schweigen. Eiligst wurde eine Deutschlandkarte herbeigeschafft, auf der die Regierungssprecherin und deren Stellvertreter so lange im Nebel stocherten, bis ein auf Sachsennieder spezialisierter Geograf aus dem Expertenrat der Bundesregierung herbeigeeilt war. Da auch diesem nicht bekannt war, dass eine rechtselbisch liegende Region zu Sachsennieder gehörte, blieb die Frage, wo das Dorf denn liege, ungeklärt.

Die Pressekonferenz zog sich so turbulent hin, dass sich der Bundeskanzler gefordert sah, höchstselbst einige beschwichtigende Worte zu sprechen. Man werde alles dafür tun, den nicht unbeträchtlichen Imageschaden für das Land, die Hauptstadt und die Stiftung wieder abzuwenden. Konkreter wurde die resolutere Kulturstaatsministerin, die jedweder Schlamperei den Kampf ansagte und im Anschluss an die Bundespressekonferenz unverzüglich zur Tat schritt.

das Ortsschild © Sabine Münch

Dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz drohte ein hohes Bußgeld, der Hauptarchivar und der Direktor des Geheimen Staatsarchivs mussten ihre Hüte nehmen. Erfolgreicher als das Köpfe-Rollen sollte sich jedoch die Ankündigung erweisen, sämtlichen Mitarbeitern der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Gehälter so lange um die Hälfte zu kürzen bis Neisor das Schriftstück zurückerhalten hatte. Kaum war die Drohung ausgesprochen, tauchte das Papier auf. Und zwar im Schreibtisch eines Ex-Praktikanten der Pressestelle. Es war zwar etwas fettig – gerade so, als hätte man eine Butterstulle darin eingewickelt – aber gottlob unbeschadet.

Bei den Neisorern war die Freude über den Fund verständlich groß. Umso mehr beim Dorfschulzen, den zudem eine gewisse Häme ritt. Denn die Kulturstaatsministerin hatte als Wiedergutmachung für die Zeitverzögerung angekündigt, dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Transportkosten für die Überstellung des Dokuments zu tragen habe. Und das sollte, so der Wille des Schulzen, sich die bis auf die Knochen blamierte Berliner Institution auch einiges kosten lassen.

Es lag auf der Hand, dass die Neisorer die Ankunft des Schriftstückes in einem gepanzerten Transporter mit Begleitschutz, bestehend aus einer 20-Mann-starken Polizei-Eskorte auf frisch polierten Motorrädern, gebührend zu feiern wussten. Ausgerichtet wurden ein Straßenumzug und ein Volksfest, für das Schausteller mit allerlei Attraktionen und Neuheiten angereist waren. Ordentlich ins Zeug gelegt für die Feierlichkeiten hatten sich alle in Neisor.

Das dorfeigene Blasorchester trat nicht nur in neuen eleganten Gala-Uniformen auf, es hatte sogar eine Hymne auf die wertvolle Schrift komponiert. Das zünftige Stück mit dem klangvollen Titel „Hunderute, Himmelspforte“ stach am Ende musikästhetisch durch einen langen Solopart der Tuba heraus, den der dicke Knut mit aufgeblähten roten Backen blies. Der Dorfbäcker hatte keine Mühe gescheut und die Fest-Backwaren mit altertümlichen Schriftzeichen verziert. Groß war das Staunen als der Clowns-Club nicht etwa in Funkenmariechen-Kostümen, sondern in einteiligen enganliegenden Catsuits auftrat. Spektakulär war auch die neue Choreografie, die sich das Ensemble für seine Tanzeinlage im Festzelt ausgedacht hatte. Zu einem fetzigen Schlager-Potpourrie wurden Buchstaben aus dem deutschen Alphabet nachgestellt; in teils atemberaubender akrobatischer Manier.

Die Attraktion schlechthin aber war der ausgestellte Fund selbst. Ein Jeder versuchte, sich an die Vitrine zu drängen, die Dorftischler Lart mit viel Liebe zum Detail angefertigt hatte. Dass nicht etwa das Original, sondern lediglich eine Kopie zu sehen war, behielt der Dorfschulze, der das wertvolle Stück sicherheitshalber bei sich zu Hause aufbewahrt hatte, lieber für sich. Was ihm nicht leicht fiel, weil ihn die Vertreter der zahlreich erschienen in- und ausländischen Presse mit Fragen löcherten.

Besonders hartnäckig bohrte ein Redakteur der in Peking erscheinenden Tageszeitung „Beijing Dialy“ nach, der fest davon überzeugt war, auf dem Dokument Logogramme erkannt zu haben, die im Mandarin gebräuchlich waren. Kaum hatte der Schulze diesen mit dem Argument beschwichtigen können, noch seien sich die Schriftexperten nicht einig, rückte ihm ein Vertreter der „Prawda“ auf die Pelle, der Ähnlichkeiten mit dem Kyrillischen entdeckt zu haben glaubte. Den Tibeter, der sich darauf verstiegen hatte, dass das Dokument in Devanagari-Schrift verfasst war, konnte er mit dem Tipp rasch loswerden, dass die Bowle vorzüglich sei, die der Clowns-Club kostenfrei im Festzelt ausschenken würde.

Die Mutmaßungen all derer, die sich mit alten Dokumenten auskannten und exotischer Fremdsprachen mächtig waren, hatten dem Schulzen, die nie über den breiten Fluss hinausgekommen war, ordentlich zugesetzt. Am liebsten hätte er im Festzelt zwei, drei Gläser Bowle gekippt und sich dann für ein Nickerchen zurückgezogen. Dafür aber blieb keine Zeit. Denn für den Abschluss der Feierlichkeiten war nicht nur ein sensationelles Feuerwerk vorgesehen, sondern auch eine Festrede des darin völlig ungeübten Dorfschulzen.

Ursprünglich hatte er geplant über die geldwerten Vorteile des Fundes zu sprechen und die fantastischen Vorhaben aufzuzählen, die nach einem Verkauf desselben finanzierbar wären. Die geballt erschienene Weltpresse hatte ihm aber jäh bewusst gemacht, dass er mit einer solchen Rede zwar die Neisorer auf seiner Seite hätte, nicht aber die Weltöffentlichkeit.

die Lesung am 16.02.2024 © Sabine Münch

Da ihm partout nichts einfiel, was er hätte vortragen können, um die Herzen aller zu gewinnen, wandte er sich an die Neuhinzugezogene aus der Kopfstraße 51, von der es hieß, dass sie des Schreibens mächtig und zudem in Krisen-PR erfahren sei. Kurz vor Illumination des Feuerwerkes stand die eilig zusammengeschusterte Rede fest und die Presse machte getreulich davon Notiz, obschon der Exkurs des Schulzen über Ethnien, Sprachen, Kulturaustausch und Völkerverständigung im Getöse des donnernden Feuerwerks untergegangen war. Dass die Medienvertreter aus dem, was sie nicht gehört hatten, trotzdem viel zu machen wussten, gehörte halt zu ihrem Geschäft.

Süß waren des Dorfschulzes Träume nach dem feucht-fröhlichem Abend. Die Brücke über den mehrere 100 Meter breiten Fluss war realisiert, der Radweg ins Nachbardorf gebaut, die Deiche nach neuesten Standards gefestigt, Straßen und die Schule saniert. Mit Genugtuung verfolgte er am Morgen im Radio die „Internationale Presseschau“, die ausführlich über ein interkulturelles Volksfest anlässlich der Heimholung eines uralten und immens wertvollen Schriftstückes berichtete. Fassungslos machte ihn dann aber ein Experten-Interview, das im Anschluss ausgestrahlt wurde.

Befragt wurde der weltbekannte grafologische Gutachter Professor Dr. Dr. Nissen, der für seine bahnbrechenden Expertisen jüngst mit der Forensik-Medaille am Bande in Gold geehrt worden war. Nissen bezweifelte nicht nur die Authentizität und den Wert des Schriftstückes, er behauptete zudem, dass Neisor die ganze Geschichte inszeniert hätte, um Reibach zu machen. Alle im Dorf seien Schlitzohren und Gauner, der Schulze ein Hochstapler…

Jetzt war die Not groß! Der Dorfschulze entschied, unverzüglich eine Krisen-Sitzung mit dem Dorfrat anzuberaumen. Da er selbst unter einem dicken Kopf litt, bat er seine Frau Gertrud statt des Frühschoppens, mit dem er die Ratsmitglieder sonst für spontane Sitzungen köderte, ein Katerfrühstück vorzubereiten.

Als Erster erschien der gewissenhafte Spul, früher beim Ordnungsamt in leitender Funktion beschäftigt. Obschon er längst Rente bezog, sorgte er weiterhin dafür, dass in Neisor Recht und Ordnung herrschten. Erst kürzlich hatte er Großbauern Beh zur Rechenschaft gezogen, weil dieser Gülle ausbringen wollte als der Wind für viele feine Nasen im Dorf ungünstig stand.

Als nächster erschien Buschkeen; Maurer, Tischler und Dachdecker in einer Person und der unschlagbare Beweis dafür, dass Handwerk goldenen Boden hat. Buschkeen war im Dorf angesehen; sein frisch realisiertes Projekt freilich hatte für viel Kopfschütteln gesorgt. Wie naarsch ist das denn, den alten Kerker, der etwas außerhalb des Dorfes lag, in ein Luxushotel umbauen zu wollen?

Nach Buschkeen kam der dicke Knut mit sichtlich geschwollenen Lippen dazu; die Tuba hatte er auf dem Fest wohl zu oft und zu heftig geblasen. Ihm folgte Herr Remus, einer der wenigen, wenn nicht der Einzige, der im Dorf gesiezt wurde. Er hatte in verantwortlicher Position in einem international tätigen Industrieunternehmen gearbeitet, war viel in der Welt herumgekommen und nicht nur des Deutschen, sogar weiterer Sprachen in Wort und Schrift mächtig.

der Bürgermeister der Gemeinde, Andreas Gehrke, während der Lesung am 16.02.2024 © Sabine Münch

Etwas verspätet zur Krisensitzung erschien Fräulein Röschen, die nach der langen Nacht im Festzelt für ihre Morgentoilette etwas mehr Zeit gebraucht hatte. Sie war stolz darauf, nie geheiratet zu haben, und bestand auf der Anrede „Fräulein“. Das mochte ein wenig aus der Mode gekommen sein, erinnerte aber an ihre jungen wilden Jahre. Als Rentnerin war ihr die Zeit lang geworden, weshalb sie ziemlich energisch – sozusagen als Quotenfräulein – in der Herrenriege mitmischte.

Die Runde erging sich in schwärmerischen Erinnerungen an das gelungene Fest. Welch ein Glücksfall, so der Schulze, dass die Heimholung des Schriftstücks mit dem traditionellen Schützenfest zusammengefallen war. Anderenfalls, nuschelte der dicke Knut, der sich Matjessalat vorgenommen hatte, wäre das Fest kein Publikumsmagnet gewesen. Fräulein Röschen klatschte begeistert in die Hände: „So ausführlich wie dieses Mal wurde seit 1851 nicht über unser Schützenfest berichtet!“ Der Dorfschulze hüstelte. Denn er musste befürchten, dass die Krisensitzung in ein anderes Fahrwasser geraten könne. Viel zu oft waren die Ältesten bei den guten alten Zeiten hängengeblieben, statt sich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen. Er leibte sich einen dritten Rollmops ein, um dann energisch zu verkünden: „Wir müssen umgehend aktiv werden!“

„Wieso das?“, entfuhr es Fräulein Röschen bestürzt. „Weil wir“, so der Dorfschulze, „anderenfalls weder einen Radweg ins Nachbardorf noch eine feste Überquerung über den Fluss realisieren zu können.“ „Warum nicht?“, fragte der dicke Knut erschrocken. „Wir müssen umgehend den Beweis erbringen, dass das Dokument sein Geld, viel Geld wert ist,“ so der Schulze. Fräulein Röschen fächelte sich Luft zu, dem dicken Knut blieb der Mund offenstehen und auf Herrn Remus Stirne zeichneten sich tiefe Sorgenfalten ab, währenddessen er ausführte: „Wir haben ein Problem. Namhafte Experten behaupten, dass unser Fund im Abrisshaus an der Hunderute wertlos ist. Und wir sollen das Gegenteil beweisen?“

Betretens Schweigen bis Spul einwarf, dass die Neisorer, die sich bekanntlich kein X für ein U vormachen ließen, schon ganz andere Widerstände überwunden hätten. Fräulein Röschen sprang ihm zur Seite: „Denken wir doch nur an die Rückgliederung nach Sachsennieder, das war ja auch kein Kinderspiel.“ „Nun“ gab der dicke Knut zu bedenken, „den Wiederanschluss an Sachsennieder hat sich die Dorfschaft nicht erkämpft!“ „Richtig“ führte Herr Remus aus, „das war ein Beschluss von Oben.“

„Wir machen es dieses Mal besser“, verhieß der Schulze in bedeutungsvollem Ton. „Demokratischer, indem wir eine Zusammenkunft organisieren und die Bewohner von Neisor aufrufen, Ideen einzubringen, wie das Problem gelöst werden kann.“ Alle nickten zufrieden. Eine Vollversammlung würde den Durchbruch bringen. Fräulein Röschen regte an, das Treffen unter ein Motto zu stellen. Vorschläge wie „Neisorer, es geht um Euch“, „Sicherer Weg ins nächste Dorf“ oder „Wir machen die Brücke“ wurden diskutiert und wieder verworfen.

das real existierende Ortsschild © Sabine Münch

Nicht geklärt werden konnten das Motto und die Frage, wo die Versammlung stattfinden sollte. Die beiden überdachten Wartehäuschen im Dorf kamen nicht in Frage und der einstige Dorftreff – das seit circa 1807 auf dem ehemaligen Platz 18 betriebene Wirtshaus – war der Großen Wende zum Opfer gefallen. Großbauer Beh bot seine Kuhweide für die Zusammenkunft an, den Vorschlag lehnten die Ratsmitglieder jedoch ab, da sie den Neisorern keine Schlammschacht wie jüngst beim Festival in Wacken zumuten wollten.

Dass sich der dicke Knut mit seiner Idee, die Vollversammlung in den Räumlichkeiten der Ferkelaufzucht stattfinden zu lassen, in die Nesseln setzte, verwunderte nicht. Denn mit der Schweinezucht assoziierten die Dorfbewohner nur eines, nämlich Gestank. Zustimmung fand schlussendlich das Angebot von Buschkeen, beim Hofbau in Hausneu nachzufragen, ob es möglich sei die neu erbaute Maschinenhalle für das Treffen zu nutzen. Die Anfrage wurde positiv beschieden. Dass die Akustik in der Halle durch den Widerhall der großen nackten Wände miserabel war, konnten die Organisatoren natürlich nicht ahnen.

Die erhofften Ideen sprudelten während der gut besuchten Dorfversammlung – nicht. So sich überhaupt einer traute, etwas zu sagen, war es nicht zu verstehen. Fräulein Röschen, die die Aufgabe übernommen hatte, das Brainstorming zu protokollieren, brachte kein einziges Wort zu Papier. Und die zahlreich vom Sierk-Blatt erschienenen Redakteure konnten sich den bereits international angekündigten Leitartikel ebenfalls abschminken.

Besser war es der Nichte des Dorfschulzen ergangen, die einige Tage zu Besuch in Neisor weilte. Sie war während der Vollversammlung zufällig zur rechten Zeit am rechten Platz gewesen und hatte aufgeschnappt, dass in Hausneu eine schriftenkundige Frau lebte, was sie ihren Onkel sofort wissen ließ. Eiligst brachte dieser Name und Anschrift der Gelehrten auf dem kleinen Dienstweg heraus, um sich dann in Begleitung seiner Nichte ins benachbarte Dorf aufzumachen.

Die Schriftkundige, die vor etlichen Jahren aus dem Westen nach Hausneu gezogen war, benötigte lediglich einen kurzen Blick auf das geheimnisvolle Dokument. „Oh, wie schön“, rief sie begeistert aus, „eine uralte Fassung des Gleichnisses vom Dagobert, dem Eroberer.“ „Welches Gleichnis?“, fragte der Schulze verdattert. Worauf dessen Nichte, die seitjeher auf der anderen Seite des Flusses lebte, ihm typisch besserwisserisch zu verstehen gab: „Drüben kennt das jedes Kind.“ Die Schriftkundige nickte und bot sich an, dem Ahnungslosen das Gleichnis zu erzählen:

Das Gleichnis von Dagobert, dem Eroberer

 Dagobert war reich und fest entschlossen, sein Geld kräftig zu mehren. Das Zeug zum Investor hatte er. Er war rhetorisch geschult, konnte seine Vorhaben mit Leidenschaft vorbringen und Herzen im Sturm erobern. So seine Argumente und sein Charme nicht hinreichten, half sein prall gefülltes Portemonnaie nach. Zupass kam ihm zudem die von ganz Oben proklamierte Zeitenwende. Denn für die spät-industrielle Revolution wurden innovative Visionäre gebraucht, die das notwenige Kapital für die vorgesehenen gesellschaftlichen Umwälzungen mitbrachten.

Nachdem der Eroberer seinen Heimatkreis gewinnmaximierend auf den Kopf gestellt hatte, suchte er neue Möglichkeiten für lukrative Investitionen. So kam er in die Beltalauen, wo er sich beste Chancen versprach. Nicht etwa weil die Kulturlandschaft reizvoll und die Natur noch intakt war. Sondern weil dort fast alle Tätigkeiten – ob Mähen, Dreschen oder Melken – händisch getätigt wurden und die Menschen eher rückständig lebten. Wenn sie mittäten, so Dagoberts Gedanke, ließe sich alles von leichter Hand zum Bessern verändern.

Kurzentschlossen suchte er den damals amtierenden Schulzen auf, der sich für die Ideen begeistern ließ, die Fortschritt ins Dorf bringen sollten. Man kam überein, eine Informationsveranstaltung in der Dorfschenke des Nachbardorfes durchzuführen. Für seinen Erfolg griff der mit allen Wassern gewaschene Kaufmann tief in die Marketing-Trickkiste. Dem Dorf wurden nicht nur blühende Landschaften versprochen, den Teilnehmern zudem so viel freie Speisen und kostenlose Getränke in Aussicht gestellt wie in leere Mägen und trockene Kehlen passen würden. Lumpen ließ sich der Eroberer nicht.

Aufgetischt wurde in der Schenke das Beste vom Feinsten und der Alkohol floss in Strömen. Kosten, die sich mehrfach auszahlten. Denn der Wirt hatte – von einigen Hochzeitsfeiern abgesehen – den Umsatz seines Lebens gemacht und Dagobert nach dem feucht-fröhlichen Abend das halbe Dorf in der Tasche. Zufrieden waren auch die Bauern, die Land verkauft hatten. Denn mit den Erlösen konnten Höfe modernisiert und der Viehbestand aufgestockt werden. Und der Schulze? Der verplante bereits die Gewerbesteuer, die alsbald in immer höheren Beträgen zum Wohle des Dorfes in die Gemeindekasse fließen sollte.

Nachdem Dagobert seine Zeche in Betrieb genommen hatte, stellten die Menschen ihre Öfen von Holz auf Kohle um, später bezogen sie Fernwärme, da der Investor ein Elektrizitätswerk hatte bauen lassen. Nach der Errichtung seines Chemiewerks wurde dem Vieh Antibiotika verabreicht und massenhaft Dünger auf den Feldern ausgebracht. Der Fortschritt war ins Dorf eingezogen und mit ihm die für die Fabriken benötigten Arbeitskräfte, die Unterkunft in der Trabantenstadt fanden, die Dagobert am Dorfrand hatte hochziehen lassen.

Doch die modernen Errungenschaften hatte ihren Preis, denn langfristig war der Schaden für Mensch und Natur groß. Wer es sich leisten konnte, zog aus dem Industriezentrum fort. Aufs Land, wo die Natur noch intakt und die Luft gut war.

Ende

die Lesung am 16.02.2024 © Sabine Münch

Richtig zugehört, um die Moral des Gleichnisses zu verstehen, hatte der Dorfschulze der Schriftkundigen nicht. Dazu zerbrach er sich viel zu sehr den Kopf, wie er aus dem Schriftstück doch noch Geld herausschlagen konnte. Im Osten würde er mit einer Geschichte über einen dort völlig unbekannten Eroberer zweifellos keinen Stich machen. Womöglich würde sich drüben, wo jedes Kind Dagobert kannte, ein Museum oder eine Bibliothek für die uralte Fassung erwärmen. Die Brücke über den Fluss und den Radweg ins Nachbardorf konnte er jedenfalls vergessen.

Denkbar schlecht gelaunt kehrte er in sein Büro zurück. Der Gedanke, dem Rat die schlechte Nachricht überbringen zu müssen, dass die Gemeindekasse klamm blieb, schlug ihm ebenso auf den Magen wie die Aussicht auf die bevorstehende Wahl. Seinen guten Ruf als Schulze von Neisor hatte er wohl verspielt. Nach so vielen Luftschlössern würde ihm im Dorf keiner mehr Glauben schenken.

Aus den trüben Gedanken riss ihn seine Frau, die im Türrahmen erschienen war. „Du hast Besuch.“ Kaum hatte er misslaunig zu verstehen gegeben, für niemanden zu sprechen zu sein, stand der unerwartete Gast schon im Raum. Eine imposante Erscheinung, dachte der Schulze, nachdem ihm feinste Lederschuhe, ein Anzug aus edlem Tuch und eine protzige Armbanduhr am Handgelenk des Fremden ins Auge gesprungen waren. Was das womöglich der Deus ex machina, die Rettung in letzter Minute?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Ich habe hier Großes vor“, ließ der offenbar gut betuchte Fremde wissen. „Versteht sich, dass das Geschäft für beide Seiten profitabel ist.“

© Gesine von Prittwitz

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2 Comments

  1. Gerd

    Schön ausgesponnen und ausformuliert. Leider kann ich mit den Namen hier fernab nicht viel anfangen. Aber eines ist ganz klar. Dieses Neizor – rechts von den traumhaft schönen Elbufern – ist ein lebendiger, wunderbarer Ort, von dem noch sehr viel zu erwarten ist. Wir wissen übrigens hier sehr genau, was Brücken sind. Auch metaphorisch. Beste Grüß von der Insel Tibaom im Nilreb.

  2. Joachim von Prittwitz

    Liebe Gesine,
    das hast du erfrischend und sehr unterhaltsam geschrieben! Die PR erfahrene Frau, bist eindeutig du ❗️Tatsächlich realistisch ist, daß selbst die Profis nicht wissen, wo Neisor liegt ❗️Schön wäre es, wenn der Brückenbau auch real werden könnte. Das wäre zumindest sehr verbindend.
    Was machen deine medizinischen Fundberichte?

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