Ein Tyrann an meiner Hand
Ein Tyrann an meiner Hand

Ein Tyrann an meiner Hand

Schon länger liebäugelte ich damit, die analoge Zeitrechnung an meinem linken Handgelenk durch eine smarte Uhr zu ersetzen. Dann aber überkamen mich Bedenken. Brauche ich einen vermeintlichen Alleskönner, der doch nur im Gewand einer Armbanduhr daherkommt? Will ich mich gläsern machen, mein Schlafverhalten analysieren, meinen täglichen Kalorienverbrauch berechnen oder meinen Puls fortwährend messen lassen? Und: wie viel Naivität gehört eigentlich dazu, sich einen Big Brother freiwillig ans Handgelenk zu binden?

ein analoger Zeitmesser © GvP

Schlussendlich obsiegte die Neugier. Schnell begriff ich, dass eine Smartwatch kein Zeitmesser, sondern ein Zeitfresser ist. Allein darüber, die smarte Lösung meinen Bedürfnissen anzupassen, vergingen Tage. Denn dass eine Uhr meines Erachtens primär anzuzeigen hat, welche Stunde und Minute in der aktuellen Sekunde schlagen, scheint Smartwatch-Nutzer nicht zu interessieren.

Nach langem Ausprobieren der zig-fach angebotenen Ziffernblätter konnte ich mich schließlich mit einem Gesicht für meine Uhr anfreunden, welches oben Links zu mindestens Datum und Uhrzeit sehen ließ. Mein Missfallen erregte jedoch, dass es zudem sechs sogenannte Komplikationsfelder anzeigte, in die wiederum 50 Funktionen wie beispielsweise Wecker, Kontakte, EKG, Herzfrequenz, Medikamente, Zyklusprotokoll, Astronomie, Wetter und Aufmerksamkeit integriert sind. Bis ich den Kniff raushatte, dass sich Komplikationsfelder auf einem Zifferblatt entfernen lassen, verging wiederum viel Zeit.

In der Genugtuung, Programmierern ein Schnippchen geschlagen zu haben, zog es mich mitsamt meiner neuen Uhr, die lediglich Datum, Uhrzeit und den Stand der Batterie anzeigte, und einem guten Buch aufs Sofa. Die Rechnung hatte ich allerdings nicht damit gemacht, dass sich Komplikationsfelder zwar unsichtbar machen, die Funktionen einer Smartwatch aber nicht deaktiviert lassen. Nach einer guten Stunde riss mich ein brummendes Vibrieren nebst leuchtendem Schriftzug am linken Handgelenk aus der Lektüre: „Zeit aufzustehen! Stehe auf und bewege dich eine Minute!“

Ein Tyrann an meiner Hand: selbstgewähltes Schicksal!

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2 Kommentare

  1. Gerd

    An Tyrannei geht noch mehr. Tippe auf den Kontakt, den du anrufen möchtest, um einen FaceTime-Audioanruf zu starten. Danach prüfst du den Well-BeingFaktor des Gesprächs, indem du die Herzfrequenz u.a. mehr checkst. Kontakte alphabetisch zu gliedern ist eigentlich passé.

  2. Petra

    Irgendwann wird uns KI ein Schnäppchen schlagen mit all diesen Daten … die kennt uns dann nämlich besser als wir uns selbst. Kürzlich habe ich gelesen, dass eine Frau ihrem Mann das Fremdgehen durch „erhöhte Aktivität“ – gemessen mit einer Smartwatch – bei einem Datenabgleich nachweisen konnte. Au revoir, mon amour!

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