Woran könnte es liegen, dass Zusteller mit der Postleitzahl 19273 bisweilen nicht klarkommen? Dass an mich adressierte Post sogar umetikettiert wurde, weil sich der zuständige Bearbeiter von DHL mit der 19273 offenbar komplett überfordert fühlte?
Mutmaßlich hängen die Schwierigkeiten, die ortsunkundige Fahrer mit der Postleitzahl haben, mit der jüngeren Geschichte von Amt Neuhaus zusammen, die recht speziell ist. Denn kein anderes Gebiet auf deutschem Boden hat nach 1945 seine Zugehörigkeit so häufig gewechselt wie das Amt Neuhaus, das traditionell mit dem Kurfürstentum/Königreich Hannover verbunden ist.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Amerikaner das Gebiet besetzt. Da die Londoner Protokolle und die Beschlüsse der Konferenz von Jalta vorsahen, den Landstrich rechts der Elbe in die britische Zone einzugliedern, wechselte die Besatzungsmacht Anfang Juni 1945. Die Amerikaner zogen ab. Da Brücken fehlten beziehungsweise im Krieg zerstört worden waren, sahen sich die Engländer nicht imstande, die rechts der Elbe lebende Bevölkerung zu versorgen. Sie traten das Gebiet an die sowjetische Militäradministration ab. Die russischen Soldaten kamen am 1. Juli 1945 ins Amt. Nun sollte es zur sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (SBZ) gehören. Nach Gründung der DDR im Oktober 1949 wurde es dem Kreis Hagenow in Mecklenburg zugeordnet. Das blieb immerhin 44 Jahre so.
Nach der Wende in der DDR und der offiziellen Grenzöffnung – erstmals überquerte eine Fähre die Elbe am 19. November 1989 – wurde in der Gemeinde alsbald der Wunsch laut, wieder zu Hannover zu gehören. „Lassen Sie uns“, so der damals amtierende Bürgermeister, Klaus Rintelen (geb. 1929), im Frühjahr 1991 zum niedersächsischen Innenminister von Niedersachsen „zurück in das Land unserer Väter“. Schon möglich, führte er noch aus, dass die Neu-Westler am Ende schlechter dastünden, als wenn sie mecklenburgisch geblieben wären. Doch wichtiger als materielle Erwägungen sei „dieses tiefe Heimatgefühl“.[1]
Die Verhandlungen zwischen den Landesregierungen in Hannover und Schwerin einerseits und der Bundesregierung andererseits zogen sich drei Jahre hin. Zunächst wurden die acht, ursprünglich selbstständigen Gemeinden Sückau, Dellien, Neuhaus, Sumte, Kaarßen, Haar, Stapel und Tripkau zur Verwaltungseinheit Amt Neuhaus zusammengeschlossen. Dann trat der Staatsvertrag zur Umgliederung nach Niedersachsen am 30. Juni 1993 in Kraft.
Mit dem Erfolg war man auch in eine Art Zwickmühle geraten. Zwar gehörte man nun zu Niedersachsen, orientiert sich aber bis heute eher in Richtung Mecklenburg. Da die 1993 versprochene Brücke noch immer nicht über die Elbe führt, werden Einkäufe oder Untersuchungen, die nicht im Amt erledigt werden können, in Mecklenburg getätigt. Wer ins Kino oder ins Theater gehen will, fährt nach Boizenburg oder Schwerin. Mehrheitlich gelesen im Amt wird die „Schweriner Volkszeitung“ und nicht etwa die „Landeszeitung“ aus Lüneburg.
Dass Mecklenburg ein Alter Ego der Gemeinde geblieben ist, spiegelt auch das Post- und Fernmeldewesen in aller Deutlichkeit wider. Statt einer Vorwahl, die mit 21 beginnt, lautet die unsrige 038841, was auf eine Zugehörigkeit zu Mecklenburg verweist. Das Gleiche gilt für unsere Postleitzahl 19273, die eben nicht nach Niedersachsen führt. Kurios ist zudem, dass lediglich jene Briefe und Pakete, die bei Elektro-Tewes aufgegeben werden, wo die Deutsche Post eine Zweigstelle unterhält, den Poststempel „Neuhaus-Elbe“ erhalten. Alles was in den Briefkästen im Amt landet, wird nach Schwerin transportiert und dort gestempelt.
Tatsächlich gibt es eine Erklärung für das Durcheinander. Denn bereits wenige Monate nach dem Fall der Mauer war offensichtlich geworden, dass die Notwendigkeit bestand, das Postleitzahl-System zu vereinheitlichen. Der Brief- und Paketverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten hatte durch Massendrucksachen von Versandhäusern in die DDR stark zugenommen. Hinzu gesellte sich ein reger deutsch-deutscher Briefwechsel in Wirtschaft und Verwaltung, da auf das in Ostdeutschland existierende Telefonnetz noch kein Verlass war. Im Juni 1990 bildeten die Deutsche Bundespost und die Deutsche Post der DDR deshalb eine Projektorganisation, die das Ziel verfolgte, die postalischen Verhältnisse in Deutschland zu vereinheitlichen. Da in beiden deutschen Staaten bereits ein vierstelliges Postleitzahlsystem existierte, lag die Lösung auf der Hand: ein fünfstelliges numerisches Modell, das zum Stichtag 1. Juli 1993 flächendeckend Geltung haben sollte. Nicht auf dem Schirm konnten die Verantwortlichen zu diesem Zeitpunkt haben, dass das Amt Neuhaus tags zuvor von der Postregion 19 (Schwerin, Ludwigslust, Wittenberge, Parchim) im Zuge einer Rückgliederung in die Postregion 21 (Lüneburg, Buxtehude, Stade, Reinbek und Teile Hamburgs) gewechselt hatte.
[1] Zitiert nach: Urzustand mit Herz, in: Der Spiegel vom 19. Mai 1991; abrufbar unter: https://www.spiegel.de/politik/urzustand-mit-herz-a-599d30d4-0002-0001-0000-000013489073