Im April 2020 bin ich in Rosien sesshaft geworden. In der Gemeinde Amt Neuhaus, die sich über 230 Quadratkilometer östlich entlang der Elbe erstreckt. Als ich das verwilderte Grundstück – den ehemaligen Platz 18 – erworben habe, hatte es Jahrzehnte brach gelegen. Von Früher zeugten noch Überreste von Stallungen und ein völlig zerfallenes Hauptgebäude mit einem Umfang von circa 370 Quadratmetern.
Wie das heutige Gebiet der Gemeinde, vermutete ich, dürfte wohl auch Platz 18 eine wechselvolle Vergangenheit gehabt haben. Dem wollte ich nachgehen. Leichter gedacht als getan. Erst Gespräche mit Einheimischen, die Informationen und Fotografien beisteuerten, setzten mich besser ins Bild.
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Nicht bekannt ist, wann das Gehöft in Rosien erbaut wurde. Dafür weiß man, dass zwischen 1807 und 1993 dort eine Gaststätte existiert hat, die gerne besucht wurde. Wirtshäuser gab es im Amt in nahezu jedem Ort. Sie waren jahrhundertelang Mittelpunkte des Dorflebens. Ob Versammlung, Hochzeit, Frühschoppen oder Sonntagsschmaus, ob Schützenfest oder Faschingstanz – in den meist schlicht gehaltenen Dorfschänken hat sich das öffentliche Leben größtenteils abgespielt.
Trotz des guten Zuspruchs wurden die Gaststätten nur nebenbei betrieben. Den Haupterwerb brachte die Landwirtschaft ein. Die Hofstellennutzer des ehemaligen Platzes 18 sind bis Mitte des 19. Jahrhunderts sogenannte Halbhufner gewesen. Darunter verstand man einen Bauer oder Pächter, der eine Fläche zwischen 12 und 26 Hektar Land bewirtschaftet hat. Ab 1807 hat der Halbhufner Johann Jürgen Beu die Gaststätte in Rosien geführt. An der Gepflogenheit, Gäste zu bewirten, hielt die Familie vier Generationen fest.
Überliefert ist, dass das Gehöft im Dezember 1907 auf die Familie Knaack überging, die den Gasthof fortgeführt hat. Berichtet wurde mir, dass dazu auch ein imposanter Saal gehört hat, in dem die Dorfbewohner gerne gefeiert, viel gelacht und ausgiebig getanzt haben. Versammlungen wurden ebenfalls dort abgehalten. So kam beispielsweise ab Mai 1910 Rosiens Freiwillige Feuerwehr regelmäßig bei Knaacks zusammen. Zum Ensemble dürfte auch ein Biergarten gehört haben. Das lassen jedenfalls die zahlreichen Flaschenhälse und Glasscherben vermuten, die ich bisher auf meinem Grundstück habe aufsammeln dürfen.
Wieviel Bier in der Kneipe getrunken wurde, ist für die 1920er Jahren verbrieft: 45 Tonnen jährlich, was genau 5.152 ½ Litern entsprach. In Eigenregie zu brauen, war Dörfern damals untersagt. Den Gerstensaft für Rosien hat man aus dem Amtsbrauhaus bezogen. In der Kirchstraße in Neuhaus befand sich seit 1913 eine Niederlassung der Lüneburger Kronenbrauerei. Günther Hagen weiß zu berichten, dass sie seinerzeit von Ernst Wilke betrieben wurde.[1] Zu den teilweise entlegenen Gaststätten im Amt sind die Fässer mit dem Pferdefuhrwerk transportiert worden.
Fortschritte in der Postzustellung und Telefonie haben alsbald die Kommunikationswege in Deutschland verändert. Aber erst nachdem Klagen aus den ländlichen Regionen laut geworden waren, ist man ab Sommer 1927 dazu übergegangen, die Postzustellung auf dem Land zu reorganisieren. In Dörfern und kleineren Gemeinden wurden Posthilfsstellen mit Telefonanschlüssen eingerichtet. So auch bei der Familie Knaack, in deren Gaststätte zwischen August 1928 und Dezember 1938 eine Filiale untergebracht war, die immerhin tagtäglich vom „Postkraftwagen“ angefahren wurde.
Letzter männlicher Betreiber der Hofstelle auf Platz 18 aus der Familie ist Walter Knaack gewesen, der 1938 um 48 Hektar Land bewirtschaftet hat. Dann brach der Zweite Weltkrieg aus und viele Männer aus dem Kirchspiel Neuhaus/Elbe wurden eingezogen. Der Heimatforscher und langjährige Direktor der Polytechnischen Oberschule in Neuhaus, Werner Hüls (1926 – 2016), hat sich bemüht, die Namen der Männer zusammenzutragen, die aus dem Amt in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts ihr Leben gelassen haben. Darunter ist auch der Name von Walter Knaack. Er wurde ab Juli 1943 an der Ostfront vermisst.[2]
Nach dem verlorenen Krieg haben die Amerikaner das Gebiet Ende April 1945 eingenommen. Hinter Platz 18 existierte im Frühjahr in Rosien ein Lager mit circa 10.000 Gefangenen, die sukzessive über Pontonbrücken in den Westen gebracht wurden. Wie auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 beschlossen, wurde das Amt der Britischen Besatzungszone zugeschlagen. Am 1. Juni wichen die Amerikaner den Briten, die wiederum entschieden, das Gebiet den Sowjets zu überlassen, die es am 1. Juli 1945 unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die Angst unter der Bevölkerung war damals groß. Viele haben sich im Westen eine neue Heimat gesucht.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Die Alliierten begannen, divergierende Interessen zu verfolgen. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus. Auch im Amt dürften erste Flugblätter wie dieses kursiert haben: „Wir rufen alle auf, zu helfen, dass aus dem junkerlichen Mecklenburg-Vorpommern ein Land der Demokratie, ein Mecklenburg-Vorpommern freier Bauern wird, wo die Bauern und nicht mehr die Junker die Nutznießer des Bodens sind.“
Die Bodenreform wurde in der Sowjetischen Besatzungszone ab September 1945 in Angriff genommen und bis 1950 rigoros durchgesetzt. Landwirtschaftsbetriebe und Güter mit einer Fläche von über 100 Hektar und Besitzer kleinerer Höfe, die als Kriegsverbrecher oder als aktive NSDAP-Mitglieder galten, wurden entschädigungslos enteignet. Im Kreis Hagenow waren davon circa 30% der landwirtschaftlichen Nutzfläche betroffen. Mehr als 30.000 Hektar wurde an über 6.300 Kleinbauern und Umsiedler vergeben, der Rest als Volkseigentum deklariert.
Vieh, Maschinen und anderes Brauchbares haben sich die Russen als Reparationen für erlittene Schäden genommen. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Lothar Borbe, dass auch der Kiefernwald nahe Neuhaus zu diesen Zwecken gefällt werden musste.[3] Die Zeiten waren hart. Überall fehlte es am Nötigsten. Und der Hunger war allgegenwärtig.
Kaum vorstellbar, dass die Gaststätte in Rosien in den ersten Nachkriegsjahren Raum für Geselligkeit geboten hat. Eher ist zu vermuten, dass Flüchtlinge, die zahlreich in den Dörfern an der Elbe Zuflucht gesucht hatten, auch dort provisorisch untergebracht waren. Bewirtschaftet wurde Platz 18 nach dem Krieg von der Witwe Elly Knaack, der Tochter Thea zur Hand ging.
Die immer drastischeren Erhöhungen der Pflichtablieferungen in der Landwirtschaft machten das Leben mitnichten leichter. Bald haben sie das Leistungsvermögen vieler bäuerlicher Betriebe überstiegen, sodass sich immer mehr Bauern in den Westen absetzten, andere haben ihren Hof aufgegeben. Im Januar 1956 hat Elly Knaack Platz 18 mit knapp 25 Hektar Land Hermann Mosel überschrieben. Einem geschäftstüchtigen Wirt, wie sich herausstellen sollte. Denn alsbald erwachte das Rosiener Gasthaus zu neuem Leben.
Kaum hatte Mosel das Gehöft übernommen, fand sich die auch Freiwillige Feuerwehr wieder in der Kneipe ein, die in den vergangenen Jahren anderenorts getagt hatte. Am 8. Januar 1956 wurden dort noch offene Fragen für einen Maskenball besprochen, der in Mosels Festsaal am 22. Januar 1956 stattfinden sollte. Unter anderem ist der Beschluss gefasst worden, dass die fünf Maskierten, die als Erste im Lokal einträfen, keinen Eintritt zu zahlen hätten.
In Feierlaune war man damals wohl eher selten. Denn der psychologische und ökonomische Druck auf die Bauern nahm zu, sich zu Genossenschaften zusammenzuschließen. Erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) vom Typ I, in denen lediglich das Ackerland genossenschaftlich bewirtschaftet wurde, hatten sich im Amt in den beiden Elbdörfern Vockfey und Neu Garge bereits im November 1952 gebildet. Dem Entschluss, sich dem Willen der Partei unterzuordnen, waren allerdings verstörende Ereignisse vorausgegangen.
Am 14. Mai 1952 hatte der Ministerrat der Sowjetunion die Schließung der deutsch-deutschen Grenze beschlossen und Maßnahmen zur Grenzsicherung an die SED-Spitze weitergegeben. Entlang der Demarkationslinie zwischen der DDR und der BRD wurde ein 5-Kilometer-Sperrgebiet eingerichtet und in „Nacht- und Nebelaktionen“ Personen aus den betroffenen Gebieten zwangsumgesiedelt.[4]
So etwa in Vockfey und Neu Garge, wo Anfang Juni allein 67 Menschen von den drastischen Maßnahmen betroffen waren.[5] In Mecklenburg sind zwischen Anfang und Mitte Juni 1952 insgesamt 490 Familien, sprich 1.885 Personen aus ihren Ortschaften, Dörfern und Gemeinden vertrieben worden.[6] Ohne Vorankündigung und Nennung von Gründen, binnen Stunden unter entwürdigenden Bedingungen.
Seit der 2. Parteikonferenz im Jahr 1952 hat die SED immer entschiedener versucht, Bauern zum LPG-Beitritt zu drängen. Doch gängeln lassen wollten sich die Landwirte nicht. Obwohl manche Vergünstigungen wie etwa die Verringerung des Abgabesolls oder verdoppelte Ankaufspreise lockten, konnte sich die LPG des Typs III lange nicht durchsetzen, in die der gesamte landwirtschaftliche Betrieb nebst Vieh, Maschinen und Wirtschaftsgebäuden einzubringen war. Erst nachdem die Kollektivierung unter dem beschönigenden Motto „Sozialistischer Frühling auf dem Land“ Anfang 1960 forciert wurde und Agitatoren von Haus zu Haus gingen, die die Bauern massiv unter Druck setzten, nahm die Entwicklung auf dem Land seinen erwünschten Gang. Hermann Mosel trat im März 1960 der LPG „Renz“ Typ III bei, die sich erst wenige Tage zuvor in Rosien gebildet hatte.
Seine Gaststätte blieb. Auf der Karte dürften damals gängige Speisen wie „Bockwurst mit Kartoffelsalat und Beilage“ oder „Soljanka mit Brot“ gestanden haben. Infolge der subventionierten Gaststättenpreise war eine Brotzeit nebst einem Glas Bier für 40 Pfennig oder eine Fassbrause für 21 Pfennig erschwinglich. – Zeiten, die lange vorbei sind.
Nach Hermann Mosels Tod hat die Dorfkneipe zunächst dessen Sohn weitergeführt. 1990, dem Jahr der deutschen Wiedervereinigung, wurde sie an einen Betreiber aus Westdeutschland verpachtet, der dem traditionsreichen Gasthof den Namen „Die Rosiene“ gab. Die Gaststätte ließ er umbauen. Allerdings wollte der neu hinzugefügte Anbau nicht so recht zum althergebrachten Ziegelbau mit prächtigem Satteldach passen, wie es für die Architektur der Region stilbildend war. Statt Soljanka stand nun Wildsülze auf der Karte.
1992 traten zwei Kaufleute aus Hamburg an, um die Hofstelle 18 zu erwerben. Nebst dem angrenzenden Platz 19, der seit 1554 einer Familie Graf gehört hatte. Die seit 1807 existierende Gaststätte wurde noch bis 1993 betrieben, eine Zeitlang unter dem klingenden Namen „Rote Laterne“.
Nachdem auch dieser Versuch gescheitert ist und Gäste ausblieben waren, hat sich der Pächter hochverschuldet bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht. Platz 18 war dem Wildwuchs und Zerfall preisgegeben. Gebrannt haben soll es dort auch. Zuvor aber, so wurde mir erzählt, hätten die Gläubiger alles, was halbwegs brauchbar gewesen war, an sich gebracht.
Viele Jahre später haben Sabine, die inzwischen den ehemaligen Platz 19 bewohnt, und ich ein verwittertes Schild mit der Aufschrift „Bauland zu verkaufen“ entdeckt. Das aber ist eine andere Geschichte.
[1] Günther Hagen: Amt Neuhaus in alten Ansichten. Band 2, Zaltbommel/Niederlande2001, Abbildung 25
[2] Ilse und Werner Hüls (Hrsg.): Unser Amt Neuhaus. Sonderheft 4: Zum Gedenken an die Opfer der Kriege und Gewaltherrschaft, bz.druck 2012, S. 46
[3] Lothar Borbe: An Elbe, Memel und Krainke, Berlin 2004, S. 219
[4] Siehe dazu u.a.: Volker Bausch, Mathias Friedel, Alexander Jehn (Hrsg.): Die vergessene Vertreibung, Oldenbourg 2020
[5] Siehe dazu u.a.: Karin Toben: Heimatsehnen, Neuhaus 2008
[6] Zitiert nach: Andrea Thorun: Juni 1952, Schriftenreihe des Museums der Stadt Hagenow, Hagenow 1992, S. 23
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Sehr gut recherchiert und zusammengestellt.
danke für das Kompliment
ja, das finde ich auch!
sehr interessant zu lesen!