Hoyer – mein Zeitzeuge
Hoyer – mein Zeitzeuge

Hoyer – mein Zeitzeuge

Hoyer, der ein Jahr ältere Bruder meines Vaters, ist am 1. Oktober 2019 verstorben. 92-jährig. Nach dem Tod meines Vaters ist er mir eine große Stütze gewesen. Und ein wichtiger Gesprächs- und Sparringpartner, da ich mich auf die Spuren unserer Familiengeschichte gemacht hatte. Eine Familie, die weit zurückreicht. Bis hin zu Karl dem Großen (742 – 814 n.Chr.). Die Legende besagt, dass Prittwitze an dessen Seite gegen die Mauren gekämpft haben sollen.

Schloss Melkof in den 1930ern © Familie v.P.

Hoyer ist mit dem Flecken, wo Hundi und ich zukünftig leben werden, vertraut gewesen; mit Land und Menschen verbunden. Er kam sogar zum Richtfest, das wir am 23. August 2019 gefeiert haben. Das wollte er sich trotz seiner Gebrechlichkeit nicht nehmen lassen: dabei zu sein, wenn seine Nichte unweit von dem Ort, an dem er mit seinen Geschwistern Kind gewesen ist, Richtfest feiert.

Vor Melkof um 1942/43: meine Großmutter Helene mit vier ihrer fünf Kinder. In der Mitte mein Vater, Hoyer fehlt © Familie v.P.

Hoyer gehörte zu jenen letzten Zeitzeugen, die wir noch zur wechselhaften Geschichte des Landstriches befragen können. Über die 1930er Jahre. Oder das Kriegsende 1945. Als die Amerikaner in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai bei Lübtheen die Elbe überquert haben. Die Bildung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der auch Amt Neuhaus zugeschlagen wurde obwohl es der Provinz Niedersachen zugehörte. Die Bodenreform und die Enteignungen, die Gründung der DDR im Oktober 1949. Die Einrichtung eines dreifach gestaffelten Sperrgebietes an der Elbe, die Zwangsaussiedlungen zwischen 1952 und 1975. Allein während der „Aktion Ungeziefer“ sind Anfang Juni 1952 aus dem Gebiet Amt Neuhaus 246 Menschen aus 23 Dörfern vertrieben worden. 1973 wurden die verlassenen Höfe geschliffen.

Hoyer hielt vom Westen ein Auge darauf und soweit möglich Kontakt mit den Menschen. Kaum war die Mauer gefallen, ist er mit meinem Vater nach Melkof gefahren. Ich habe die Beiden damals begleiten dürfen.

Hoyer und ich im März 2019 © Sabine Münch

Ihre unbändige Freude, ihre Euphorie, den Ort ihrer Kindheit wiedersehen zu können, haben mich peinlich berührt. Für mich war die deutsche Teilung Fakt. Ihre Begeisterung vor der heruntergekommenen Fassade eines vermeintlichen Schlosses machten mich fassungslos. „Schau, dort war unser Kinderzimmer, dort das unserer Amme.“ „Hier Gesine“, Hoyer wies auf den Teich, „ist dein Vater im Winter eingebrochen.“ Verlegen habe ich später beobachtet, wie sich gestandene Männer und Frauen unter Tränen in den Armen lagen. Einstige Spielkameraden.

Heute erst, nachdem ich mich eingehend mit meinen „Ahnen im Schatten“ beschäftigt habe, ist mir klar, wie nahe ihnen der Verlust dieser Heimat gegangen ist und was es bedeutete, dorthin zurückzukehren.

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