Kurz vor Weihnachten in der Bücherei
Kurz vor Weihnachten in der Bücherei

Kurz vor Weihnachten in der Bücherei

Wenn die Tage kürzer werden, wird es stockdunkel im Amt. Ein wenig heller ist es im Advent, wenn der Weihnachtsbaum in Neuhaus illuminiert ist, die Bewohner ihre Dörfer, Häuser und Gärten mit Leuchtmitteln schmücken und der glitzernde Engel auf der Baumspitze in der Gemeindebücherei erstrahlt. Dann erwachen die Bücher; sie erzählen einander aberwitzige Geschichten, prahlen um die Wette, bisweilen jammern sie auch.

Hoch her war es kurz vor Weihnachten im Krimibereich zugegangen, wo keine Einigung über den perfekten Mord erzielt werden konnte. Gestritten wurde so lautstark, dass sich ein Kinderbuch mit dem Titel „Die Polizei – dein Freund und Helfer“ veranlasst sah, Alarm zu schlagen. Woraufhin die Sieben Schwestern, über die sich Lucinda Riley immerhin acht beachtlich dicke Schmöker ausgedacht hat, vor Schreck aus dem Regal plumpsten. Da sie ihren Platz im untersten Regalboden hatten, war ihnen beim Sturz gottlob nichts Schlimmes passiert. Lediglich Band 3 hatte sich einige Seiten geknickt.

Weihnachtsbaum in der Bücherei © GvP

Die Biografien waren durch den Lärm allerdings aufgeschreckt. „Nicht schon wieder“, mahnte eine, die Schicksalen im Zweiten Weltkrieg gedachte: „Lernt denn keiner aus der Geschichte?“ Der Bereich mit regionaler Literatur brüstete sich: „Wir arbeiten daran.“ Woraufhin sich die Unterhaltung erboste: „Bücher sollen unterhalten, nicht belehren! „Papperlapapp“, maßregelte sie ein Fachbuch: „Büchereien haben einen Bildungsauftrag! Sie sind – ich zitiere aus einem Papier des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages – ‚ein integraler Bestandteil des Bildungssystems‘.“

„Eben“, erhob es sich vielstimmig aus dem Kinder- und Jugendbereich, „deshalb gebührt uns allergrößte Fürsorge. Wir fordern mehr Budget!“ „Wir erfüllen einen klaren Bildungsauftrag,“ schaltete sich der Sachbuchbereich ein, „trotzdem wird sich nicht um uns gekümmert.“ „Zu Recht“, kreischte ein Thriller, „unsere Leser wollen unterhalten und nicht belehrt werden!“ „Das ist eine Unverschämtheit“, fuhr ein Lexikon dazwischen, „der Thriller unterstellt unseren Lesern mangelndes Interesse. „Außerdem“ führte ein historischer Roman aus, „sind zum Sachbuchbestand in den vergangenen 1 ½ Jahren das Debattenbuch von Dirk Oschmann, eine neue Geschichte der DDR, etwas über Krippen und…“

Die Aufzählung wurde abrupt unterbrochen. „Wir haben gar nichts gekriegt“, jammerte es aus dem Fach für Regionalia. „Das stimmt doch nicht“, führte ein Bildband aus: „Erst kürzlich sind zu Euch sogar zwei hochpreisige Exemplare der Dissertation von Christoph Mädge über die Geschichte des Amtes dazugekommen. „Hochpreisig ist die Belletristik auch,“ so ein anonymer Einwurf aus einem Hörbuch-Fach. Woraufhin ein Wirtschaftstitel zu einer Grundsatzerklärung anhob: „Die Papier- und Energiekosten sind enorm gestiegen. Deshalb sind Bücher teurer geworden. Besonders stark hat die Kinder- und Jugendliteratur zugelegt. Im vergangenen Jahr kosteten Vorlesebücher bereits 17 Prozent und Bilderbücher 13 Prozent mehr. 2023 dürfte die Teuerung noch zugenommen haben.“

„Dafür können wir doch nichts“, unterbrach ihn ein Bilderbuch, dem ein Vorlesebuch zur Seite sprang: „Wer an uns spart, macht sich an den Nachkommen schuldig.“ „So ein Blödsinn“, rief ein Dorfroman, „ihr kommt so gut wie keiner sonst von uns weg. Vor zwei Jahren sind von der 2.500 Euro-Spende der Sparkassenstiftung ausnahmslos Kinderbücher angeschafft worden.“ „Das ist eine Ungerechtigkeit, die zum Himmel schreit. Ich fordere eine Haushaltssperre für den Kinderbuchbereich,“ ereiferte sich ein belletristischer Titel.

„Liebe Bücher,“ mahnte der Knigge, „so kommen wir nicht weiter. Nur gemeinsam sind wir stark, nicht zerstritten und zerfleddert!“ Betretenes Schweigen bis sich ein Krimi zu Wort meldete, dessen Ermittler im Ruf stand, neunmalklug zu sein: „Büchereien rechnen sich nicht, sie zahlen sich aus.“ „Gut gebrüllt, Löwe“, lobte das Ratgebereck. Band 7 der Jugendreihe „Einführung in die Demokratie“ unterbreitete den Vorschlag, unter diesem Motto eine Petition an den Bürgermeister, die Kämmerin und den Rat zu richten und mehr Budget für Neuerwerbungen einzufordern. Alle klatschen heftig mit den Buchdeckeln, tosender Beifall erscholl aus der Belletristik, deren Bestand tatsächlich ziemlich veraltet ist.

„Das wird nicht funktionieren“, meinte eine Biografie, die über steinige Wege bestens Bescheid wusste. „Wieso nicht?“ wollte ein Erstlesebuch wissen. „Weil“, antwortete ein Sachbuch, „Bürgermeister, Kämmerin und der Rat rechnen. Rechnen müssen.“ „Die denken nicht?“ fragte ein Bilderbuch erschrocken. Wieder herrschte Stille. Das betretene Schweigen hielt an bis einem Dorfroman eine zündende Idee gekommen war: „Beim Rechnen muss man denken.“

Gut gebrüllt, Löwe, wiederholte sich das Ratgebereck. Alle redeten wild durcheinander, fast wären beim Verteilen des Etats für Neuerwerbungen Streitigkeiten entbrannt. Plötzlich jammerte es aus dem Kinderbereich: „Wir sind müde.“ „Stimmt,“ ließ ein sichtlich zerlesener Regionalkrimi wissen, “wir sollten endlich schlafen. Morgen ist ein langer Tag.“ Zur Ruhe kamen die Bücher jedoch erst, nachdem die Unterhaltung, die bekanntlich vom happy end lebt, beruhigende Worte fand: „Alles wird gut! Morgen ist Weihnachten.“

Büchereien rechnen sich nicht, sie zahlen sich aus.

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