Melkof zwischen 1945 und 1949
Melkof zwischen 1945 und 1949

Melkof zwischen 1945 und 1949

Nachdem meine Großmutter Helene erfahren hatte, dass ihr Ex-Mann Graf von Kanitz sich mit seiner zweiten Frau Irma auf Anraten der Amerikaner in die Schweiz abgesetzt hatte und Melkof sozusagen „herrenlos“ geworden war, machte sie sich mit den beiden Kanitz-Erben, der sechsjährigen Jelka und dem 11 Jahre alten Michael, nach Mecklenburg auf. Dort war das Kriegsende besiegelt worden, als die Amerikaner in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1945 bei Lübtheen die Elbe überquert hatten und die Rote Armee auf das Gebiet des heutigen Landkreises Ludwigslust-Parchim vorgestoßen war. Von Lübtheen aus schloss die 2. US-Armee zu den russischen Truppen auf.

meine Großmutter Helene um 1940 © Familie vP

Mecklenburg kapitulierte am 3. Mai. Gut Melkof wurde zunächst von den Amerikanern besetzt. Doch dann haben die Alliierten auf der Konferenz von Jalta anderes entschieden. Am 9. Juli 1945 wurde die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) gebildet, zu der neben Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Pommern, ein großer Teil Brandenburgs auch Mecklenburg und somit der Familienbesitz Melkof gehören sollten.

Kaum hatte man sich auf eine Sowjetische Besatzungszone geeinigt, schon kursierten dort erste Flugblätter, die für eine Bodenreform warben: „Wir rufen alle auf, zu helfen, dass aus dem junkerlichen Mecklenburg-Vorpommern ein Land der Demokratie, ein Mecklenburg-Vorpommern freier Bauern wird, wo die Bauern und nicht mehr die Junker die Nutznießer des Bodens sind.“ Ab September 1945 wurden Landwirtschaftsbetriebe und Güter mit einer Größe von über 100 Hektar entschädigungslos enteignet. So auch Melkof im Oktober 1945.

Schloss Melkof © Familie vP

Das Gut wurde aufgesiedelt und in Parzellen von jeweils 40 Morgen an 69 Flüchtlinge verteilt. Obwohl die Bodenreform offiziell vorgesehen hatte, dass die ehemaligen Inhaber mindestens 30 Kilometer von ihrem einstigen Besitz entfernt leben und arbeiten sollten, sprach ein wohlmeinender russischer Kommandant meiner Großmutter eine Parzelle zu. Mit ihren beiden Kindern durfte sie zudem im „Schweizerhaus“ zu wohnen, dem ehemaligen Melkerhaus des Gutes.

Ihrer existenziellen Sorgen war sie damit freilich mitnichten enthoben. Jedermann kämpfte damals ums Überleben, überall fehlte es am Notwendigsten. Der Hunger war so gegenwärtig wie die Sorge um die Söhne aus der ersten Ehe mit Bernhard von Prittwitz (1896 – 1944). Der erstgeborene Sohn Wilhelm galt seit Herbst 1943 vermisst, Hoyer war 18-jährig in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten.

das Schweizerhaus im Jahr 2002 © Familie vP

Meinen Vater Krafft-Erdmann hatten die Sowjets im Alter von 16 Jahren auf Rügen festgenommen und nach Thorn an der Weichsel verbracht. Nach seiner Entlassung (“Du noch jung, du Kind“) schlug er sich zu Fuß erst nach Brandenburg an der Havel, wo er die Familie vermutete, dann nach Melkof durch. Hier konnte ihn meine Großmutter im Winter 1945 wieder in die Arme schließen. Zu Weihnachten 1946 auch Hoyer, der anderthalb Jahre in einem Arbeitslager in Südfrankreich zugebracht hatte.

Für ihre Söhne malte sich meine Großmutter auf Melkof keine Zukunft aus. Ihre Hoffnung, dass Michael das Kanitz’sche Erbe antreten könne, hatten die politischen Entwicklungen in der Sowjetischen Besatzungszone zunichte gemacht. Sie entschied, dass sie in den Westen gehen sollten, wo Hoyer bei Verwandten nahe Stuttgart bereits untergekommen war.

Mein Vater hat die Flucht über die Elbe erstmals im Winter 1947/48 gewagt. Das Eis trug nicht, er brach ein. Erst beim dritten Versuch im März 1948 – drei Monate vor seinem 20. Geburtstag am 7. Juli – ist es ihm gelungen, die Elbe zu durchschwimmen. Vermutlich in der Gegend bei Neu-Darchau. Am Westufer wurde er von seinem Bruder Hoyer erwartet.

im Westen vereint (v.l.n.r.:) meine Großmutter Helene, mein Vater Krafft-Erdmann, Halbbruder Michael Graf von Kanitz, Hoyer von Prittwitz, Halbschwester Gräfin von Kanitz © Familie vP

Der 15-jährige Michael hat Melkof im Sommer 1949 verlassen. Noch kurz bevor die DDR im Oktober 1949 gegründet wurde, beantragte meine Großmutter für sich und die damals 10-jährige Jelka einen Ausreiseantrag, der bewilligt wurde. Damit waren alle im Westen angekommen.

Viele Neubauern, die Melkof nach 1945 bewirtschaftet haben, gaben im Verlauf der 1950er Jahre auf. Von Landwirtschaft haben sie schlichtweg zu wenig verstanden. Das Land fiel an den Bodenfonds zurück und wurde zum „Volkseigentum“ erklärt; aus dem ehemaligen Gutsbezirk wurde eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) mit zuletzt 50 Mitarbeitern. Obschon das Schloss zunehmend zerfiel, richtete man darin ein sogenanntes Kreisfeierabendheim, sprich: ein Alters- und Pflegeheim ein.

Nach dem Fall der Mauer war die Treuhandanstalt formal Eigentümer des einstigen Familienbesitzes. Michael hat beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wegen der Enteignung des Kanitz’schen Besitzes Klage eingereicht. Argumentiert wurde damit, dass der Einigungsvertrag, der die zwischen 1945 und 1949 vorgenommenen Enteignungen festgeschrieben hatte, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. Recht bekamen der Kanitz-Erbe und 13 weitere Mitkläger nicht. Anders als die Enteignungen, die zu DDR-Zeiten vorgenommen worden waren, wurden diejenigen, die während der Bodenreformbewegung in der SBZ erfolgt waren, nicht rückgängig gemacht.

Das Schloss, das mit einer Wohnfläche von mehr als 4.800m² heute zu den größten, in Norddeutschland gelegenen Herrenhäusern zählt, hat Ute Schönfelder im Jahr 2003 erstanden. Es wird mit Drittmitteln sukzessive restauriert. Die dem Verfall preisgegebene spätklassizistische Gutskirche, die in Mecklenburg Seltenheitswert hat, wurde zwischen 1999 und 2013 aufwändig saniert. Um den Park im englischen Stil bemüht sich der Förderverein „Park Melkof“; das Land wird von der Agrargesellschaft Melkof bewirtschaftet. – Hier werden die Kartoffeln angebaut, die mir so vorzüglich munden.

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