So glücklich wie nie zuvor ist meine Großmutter Helene auf Melkof gewesen. An der Seite eines begüterten Grafen, Herrin auf einem Schloss und über viele Bedienstete. Graf von Kanitz ist drei Jahre jünger gewesen als sie und von eher schüchterner Natur. Es heißt, dass er von der erfahreneren attraktiven Frau, die in erster Ehe bereits drei Kinder geboren hatte, fasziniert gewesen sein soll. In der ersten Zeit dürfte er Helene auf Händen getragen haben. Große Gefühle, die mit den Jahren nachließen. Mag sein, dass die politischen Entwicklungen nach 1933 und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass auch die zweite Ehe meiner Großmutter gescheitert ist. Im Unterschied zu ihrer ersten Beziehung, aus der meine Großmutter bereits nach der Geburt von Wilhelm im Jahr 1922 erstmals ausgebrochen ist, hat sie dieses Mal um ihre Ehe gekämpft.
Ich bin meiner 1969 verstorbenen Großmutter Helene als kleines Mädchen zwar verschiedentlich begegnet, kann mir jedoch kein rechtes Bild von ihr machen. Ich bewundere ihre Leistungen und ihren Mut; als Mensch aber ist sie mir fremd geblieben. Anders als mein 1944 gefallener Großvater Bernhard, dessen schweres Los mich bedrückt. Wenngleich ich ihm nie begegnet bin, fühle ich mich ihm nah.
Fast alles, was ich über meine Großmutter weiß, stammt aus Erzählungen ihrer Söhne, die – für mein Dafürhalten – ihre Mutter vergöttert haben. Nie wäre ihnen in den Sinn gekommen, ein kritisches Wort über sie zu verlieren. Anders als ihre Schwiegertöchter Elisabeth, Sibylle, Irmgard und ihre Tochter Jelka, die verschiedentlich zu verstehen gegeben haben, dass der Umgang kein leichter gewesen ist. Kolportiert wurde, sie habe „einen Deibel im Frack“. Meine Großmutter war eine starke Persönlichkeit, die sich durchsetzen konnte. Dabei ließ sie sich eher von den Gefühlen leiten. Sie konnte schnell wütend und ungerecht werden. Man saß, wie Elisabeth berichtet hat, „immer auf einem Pulverfass, weil ihre Reaktionen so schnell und überraschend kamen.“ – Weder ihre fünf Kinder, noch ihre Ehemänner dürften es mit ihr leicht gehabt haben.
Die ersten Jahre mit Friedrich-Franz Hubertus Graf von Kanitz, allseits Bebs genannt, standen durchaus unter einem guten Stern. Das Paar war glücklich, Helene so glücklich wie nie zuvor. Wenn auch Strenge herrschte, haben die Kinder das Leben auf Melkof genossen. Paddeln auf dem Dorfteich, Reiten auf dem Shetlandpony Peter, auch im Schloss selbst gab es viel zu erkunden: den gruseligen Dachboden etwa, der voller Spinnenweben und Fledermäuse gewesen ist. Nachmittags sind häufig die Kinder aus dem Dorf zu ihnen in den Park gekommen. Fußball stand obenan. Das Turnier gegen die junge Mannschaft aus Pritzier am 19. Juni 1938 konnte Melkof mit 3:0 siegreich für sich entscheiden.
Köchin und Küchenmädchen, Gärtner und Gartenjungen, Zimmer-, Kindermädchen, der Hauslehrer Erwin Bahnsen, Kutscher und Stalljunge sowie eine „Jungfer“ für ihre persönlichen Belange sind meiner Großmutter fleißig zur Hand gegangen. Bei den alltäglichen Verrichtungen ebenso wie den festlichen Diners, Bällen und Jagdgesellschaften, die das Paar regelmäßig auf Melkof gegeben hat. Besuch kam viel und häufig ins Schloss. Zum Einkaufen ging es im Zweispänner nach Lübtheen; in Bebs Audi Cabriolet zu allerlei Geselligkeiten nach Hamburg oder Berlin, wo das Paar standesgemäß im Hotel Adlon Quartier bezogen hat.
Die unbeschwerten Jahre endeten als deutsche Truppen im September 1939 Polen überfallen haben. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges, der mindestens 55 Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Männer, Pferde und Fahrzeuge wurden vom Gut abgezogen. Bebs wurde im Spätherbst 1939 eingezogen. Kurz darauf musste auch Hauslehrer Bahnsen in den Krieg ziehen, weshalb die beiden jüngeren Prittwitz-Brüder aufs Internat nach Putbus auf Rügen geschickt wurden, das ihr älterer Bruder Wilhelm bereits seit 1938 besuchte.
Anfang 1941 kehrte Bebs aus dem Krieg heim. Er hatte sich in Frankreich ein schweres Rückenleiden zugezogen und war deshalb für „kriegsuntauglich“ erklärt worden. Etwa um diese Zeit dürften auch die ersten Kriegsgefangenen – offenbar Franzosen – auf Melkof untergebracht worden sein. Ab 1942 auch russische Gefangene, die schlechteres Quartier und weniger zu essen bekommen haben sollen. Hoyer hat berichtet, dass meine Großmutter diesen „armen Menschen“, wie sie sie nannte, heimlich immer wieder etwas aus Küche und Speisekammer zukommen ließ.
Da die zugeteilte Kohle nicht ausreichte, um ausreichend heizen zu können, wurde das Schloss geräumt. Man zog mit dem nötigsten Mobiliar ins Verwalterhaus. In der Ehe begann es zu kriseln. Trost hat Bebs bei Irma Runge gesucht, seiner Sekretärin. Meine Großmutter deckte die Affäre auf. Nach heftigen Streitereien, Anklagen, vielen Tränen und verzweifelten Versuchen, die Geliebte aus dem Haus zu treiben, gab es kein Einlenken mehr. Bebs hielt an seiner jungen Liebe fest. Woraufhin meine Großmutter Hermine, die zweite Frau von Wilhelm II., für sich und die Kinder um Asyl gebeten hat, das ihr großzügig eingeräumt wurde. Im Sommer 1943 bezog sie auf Schloss Saboor in Niederschlesien, wo Hermine seit dem Tod des letzten deutschen Kaisers im Jahr 1941 gelebt hat, einen Flügel. Die Ehe mit dem Grafen wurde geschieden.
Bebs hat Irma Runge geheiratet und mit ihr drei Kinder bekommen. Nach Kriegsende haben die Amerikaner, die die Gegend eingenommen hatten, dem Grafen nahegelegt, Melkof zu verlassen, da das Gebiet der sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen werden sollte. Er hat sich mit seiner neuen Familie in die Schweiz abgesetzt.
Nachdem meiner Großmutter zu Ohren gekommen war, dass der Graf den Besitz verlassen hatte, ist sie nach Melkof zurückgekehrt. In der trügerischen Hoffnung, das Gut für Sohn Michael, den rechtmäßigen Erben, zu retten und ihren Kindern nach der Flucht aus Schlesien wieder ein Zuhause bieten zu können.
Ungewiss war damals der Verbleib ihrer Söhne aus erster Ehe, die allesamt in den Krieg gezogen waren. Wilhelms U-Boot 639 wurde seit August 1943 im nördlichen Eismeer vermisst, Hoyer, den die Amerikaner festgesetzt hatten, befand sich in einem Lager in Südfrankreich, mein Vater in russischer Kriegsgefangenschaft. Gemeinsam mit anderen Kindersoldaten hat er zu den letzten Aufgeboten gehört, die sich den Russen entgegenwerfen sollten.
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