„Meine Kameraden sterben an der Front und ich sitze in der warmen Stube in Jägerndorf herum.“ So soll mein Großvater Bernhard, der seit 1939 in Jägerndorf im Sudetenland ein Wehrbezirkskommando leitete, seinen Wunsch erklärt haben, wieder an der Front kämpfen zu wollen. Dass Krieg keine Option ist und der Tod auf Schlachtfeldern niemanden zu einem Helden macht, hätten ihn eigentlich seine traumatisierenden Erfahrungen in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges lehren müssen.
Dem Gesuch des 46-Jährigen wurde im Herbst 1942 stattgegeben. Er kam an die Ostfront zur 320. Infanterie-Division, der „Herz-Division“, der ab Dezember 1942 mit Generalleutnant Georg-Wilhelm Postel (1896 – 1953) ein ausgezeichneter Stratege vorstand. Bei sämtlichen seiner Operationen, wie etwa der im Raum Charkow im Herbst 1943, ist mein Großvater dabei gewesen.
An der Front hat ihn im September 1943 die entsetzliche Nachricht erreicht, dass das U-Boot 639, auf dem sein ältester Sohn, der 21-jährige Dicki, als Wachoffizier Dienst tat, seit Ende August 1943 im Nordmeer vermisst wurde. – Viele Jahrzehnte herrschte bei den betroffenen Familien Ungewissheit, da das Schicksal der Mannschaft erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollständig geklärt werden konnte. Unter dem Kommando von Oberleutnant Walter Wichmann (1919 – 1943) war Dickis U-Boot mit einer 47-köpfigen Besatzung ab dem 12. August 1943 im nördlichen Eismeer unterwegs gewesen, der Kara-See. Am 28. August lief es über Wasser. Es wurde vom sowjetischen U-Boot S-101, auf dem auch ein englischer Verbindungsoffizier eingesetzt war, gesichtet und mit drei Torpedos beschossen. U 639 sank binnen weniger Sekunden; es gab keine Überlebenden.
Im Januar 1944 hat mein Großvater bei der 320. Infanterie-Division das stellvertretende Kommando über das Grenadier-Regiment 586 mit 390 Mann übernommen, darunter vorrangig junge Offiziere und Offiziersanwärter. In ungewöhnlicher Offenheit – normalerweise schonte man die Familie zu Hause lieber – hat er in einem Brief an seinen Sohn Hoyer mit Datum vom 14. April 1944 beschrieben, wie es ihm und seinen Männern an der Ostfront ergangen ist. Daraus ein Auszug:
„Ich spinne täglich tüchtig Seemannsgarn, wenn ich irgendwie Zeit dafür habe. Meine Jagderlebnisse, meine Panjepferdchen – und Euer Besuch – spielen dabei d i e Rolle. Viel Zeit zum ‚Spinnen‘ hatte ich aber in der letzten Woche allerdings nicht. Von meinem stolzen Regiment und seinen begeisterten Offizieren und Offiziers-Bewerbern – weiß ich mich nun doch mit besonderer Freude angenommen – ist nicht mehr viel übrig. Wir haben immer wieder unsere Pflicht getan. Und dass es O b e n angekommen ist, ist aus der Mitverantwortung des Generals Postel zu ersehen. Ich selbst habe von mir Gehorsamkeit verlangt, um an der Spitze mit dem letzten Einsatz der Reserven mit ‚Hurrah‘ zu stürmen – und Erfolg gehabt. Aber wir hatten darauf umso größere Schlappen und Verluste zu schlucken. – Die körperlichen Anstrengungen waren unbeschreiblich zumal der olle Winter nicht weichen wollte, sondern uns mit Schneestürmen und Eisstürmen ins Gesicht zischte.“
Epilog:
Mein Vater Krafft-Erdmann ist 1928 in Schwundnig im niederschlesischen Kreis Oels geboren. Ihm und seinen Geschwistern wurde Melkof, in der Provinz Mecklenburg gelegen, 1934 zur zweiten Heimat. Der Ort liegt wenige Kilometer von Rosien entfernt, wo ich zukünftig leben werde.
Wieso und wie gelangten sie dorthin? Eine Frage, der ich im Zuge der Recherchen zu meinen „Ahnen im Schatten“ auch nachgegangen bin. Es war eine Spurensuche, die sich über viele Stationen erstreckt hat.
Eine ziemlich verworrene Geschichte, die ich hier in Etappen berichte. Sie beginnt in Rostock, wo meine Großeltern Bernhard von Prittwitz und Gaffron und Helene, geborene von Jagow, 1921 unter keinem glücklichen Stern geheiratet haben. Nachdem meine Großmutter einen handfesten Skandal ausgelöst hatte, ist das junge Paar vom Familiensitz Mühnitz nach Schwundnig verbannt worden. Nach dem Tod der beiden alten Herren, Ernst-Ludwig von Jagow und Wilhelm von Prittwitz, hat Helene Mut gefasst und Bernhard verlassen; einen Mann, den sie nie geliebt hat. Als Vetaran des Ersten Weltkrieges wurde mein Großvater nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935 reaktiviert.
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