Vierte Etappe: Abschied von den alten Herren und Verblüffendes über meinen Ur-Großvater Wilhelm
Vierte Etappe: Abschied von den alten Herren und Verblüffendes über meinen Ur-Großvater Wilhelm

Vierte Etappe: Abschied von den alten Herren und Verblüffendes über meinen Ur-Großvater Wilhelm

Am 19. April 1930 ist der Vater meiner Großmutter Helene Ernst-Ludwig von Jagow, ehemals Oberpräsident von Danzig und Westpreußen und in Brandenburg an der Havel amtierender Domherr, im Alter von 76 Jahren verstorben. Die Anteilnahme am Tod seiner Exzellenz, wie er allgemein genannt wurde, war groß. Unzählige Beileidsbekundungen und Kränze. Angeführt hat den Trauerzug Reichskanzler Paul von Hindenburg, der auch sehr gefühlvolle Worte des Gedenkens und Abschiedes gefunden haben soll. Zwei Förster hielten Ehrenwache an Jagows Sarg, der vor dem Altar im Brandenburger Dom aufgebahrt war.

Ernst-Ludwig von Jagow mit seiner Frau Helene, geb. von Enkevort © Familie vP

Keine neun Monate waren nach der Beerdigung seiner Exzellenz vergangen, als auch Ur-Großvater Wilhelm Ferdinand Emil von Prittwitz und Gaffron am 14. Januar 1931 im Alter von 67 Jahren seine Augen für immer schloss. Dank der Nachforschungen zu meinen „Ahnen im Schatten“ habe ich Erstaunliches über ihn zutage gefördert. Wie in der Familie üblich schlug er zunächst eine militärische Laufbahn ein: Kadettenanstalt in Dresden, danach diente er – wie schon sein Vater Bernhard Ernst Moritz (1828 – 1897) und später sein Sohn Bernhard Oskar Wilhelm – im Schlesischen Leib-Kürassier-Regiment „Großer Kurfürst“ Nr. 1. Hier hat er im Rang eines königlich preußischen Majors eine Eskadron angeführt und bei einem Manöver offenbar einen schweren Reitunfall erlitten.

1890 ist mein Ur-Großvater dann sprichwörtlich aus der Reihe getanzt. Er übernahm Funktionen, die in der Familiengeschichte derer von Prittwitz beispiellos sind. 26-jährig zunächst das Amt des Ersten Vortänzers an der Großen Schlesischen Provinzial-Ressource in Breslau, eine anfangs vornehmlich dem Militärstand vorbehaltene, 1800 gegründete Gesellschaft, die dem kulturellen und geselligen Leben der Stadt wichtige Impulse gegeben hat. 1890 stieg er dort wie einst Molière – dieser freilich am Hof des Sonnenkönigs – zum „Vergnügungsdirektor“ auf. Damit oblag ihm die Organisation von Geselligkeiten, Bällen und großen Feierlichkeiten wie etwa das 100-jährige Jubiläum der Schlesischen Provinzial-Ressource mit 800 geladenen Gästen, einem Festakt im Staatsteater und einem feierlichen Diner im Breslauer Zwinger.

die Traueranzeige © Familie vP

Von seiner Funktion hätte ich nie erfahren, wären im Nachlass meines 2015 verstorbenen Vaters nicht mehrseitige Schriftstücke aufgetaucht, die mein Ur-Großvater Ende der 1920er Jahre zu einer Zeit verfasst hat, als er infolge der Inflation in großer Sorge um den Familienbesitz Mühnitz gewesen ist und Ablenkung beim Verfassen seiner Erinnerungen an „bessere Zeiten“ gesucht hat. Dazu ein Zitat aus seinen „Erinnerungen an glückliche Jagdtage“: „Blau ringelt sich der Rauch der Zigarre zur Decke, das ist ja so recht die Stunde zum Träumen, zum behaglichen Zurückerinnern an leider verklungene glückliche Tage und liebe Menschen, die nun auch schon zum Teil der grüne Rasen deckt. Leise murmelt man vor sich hin: ‚Es war einmal.‘ Dann aber taucht man die Feder ein und erlebt noch einmal beim Niederschreiben alles, was in jener Zeit das Herz höherschlagen ließ.“

Mein Ur-Großvater war Zigarrenraucher, ein passionierter Jäger und ein begeisterter und herausragender Tänzer, der die seinerzeit gängigen Gesellschaftstänze perfekt beherrscht hat. Ein Mann mit leisem Humor und konservativer Einstellung, dem die neuen Verhältnisse in der Weimarer Republik – wie vielen anderen Adligen, die der Kaiserzeit nachtrauerten – zu schaffen gemacht haben. In seiner Ära als Vergnügungsdirektor der Schlesischen Provinzial-Ressource ist ihm etwa bitter aufgestoßen, dass sich die Ball-Etikette im Verlauf der 1920er Jahre gelockert hatte:

mein Ur-Großvater Wilhelm mit seinem Sohn, meinem Großvater Bernhard © Familie vP

„Der militärische Charakter nahm nach und nach sein Ende. Die begeisterten Galopp-Walzer hörten auf. – Wie viele Meilen mag ich diesen Walzer getanzt haben? – Die Schiebetänze setzten ein. Schön und packend für Tingel-Tangel, als Gesellschaftstänze nur möglich, wenn sie wirklich vornehm getanzt werden. Temperament und Eigenart kommen so bei Tänzern, noch mehr bei den Tänzerinnen, zur Geltung. Tanzkarten gibt es nicht mehr. Nur die von den Herren gekannten Damen, einige schöne und besonders elegante oder kokette, tanzen. Ein Drittel schimmelt oder sitzt einzeln mit ihren Herren in den Nischen herum. Kein Mensch kümmert sich darum, ob die Damen tanzen oder nicht. So kann es passieren, dass Familien weither nach Breslau kamen, und das Töchterchen hatte keinen Tanz getanzt. So etwas darf nicht vorkommen! Der Arrangeur hat mit größter Energie dafür zu sorgen, dass genügend Herren auf den Bällen sind, und dass diese auch tanzen.“

Nachdem mein Ur-Großvater ein Einsehen hatte, dass „seine Erziehung mit der Nachkriegszeit nicht in Einklang zu bringen war“, legte er sein Amt 1926 nieder. – Seine letzten fünf Lebensjahre hat er in schlechter gesundheitlicher Verfassung verbracht. – Schwer vorstellbar, dass der tanzfreudige Herr zuletzt auf einen Rollstuhl und die unermüdliche Pflege meiner Ur-Großmutter Eleonore angewiesen war.

Epilog:

Mein Vater Krafft-Erdmann ist 1928 in Schwundnig im niederschlesischen Kreis Oels geboren. Ihm und seinen Geschwistern wurde Melkof, in der Provinz Mecklenburg gelegen, 1934 zur zweiten Heimat. Der Ort liegt wenige Kilometer von Rosien entfernt, wo ich zukünftig leben werde.

Wieso und wie gelangten sie dorthin? Eine Frage, der ich im Zuge der Recherchen zu meinen „Ahnen im Schatten“ auch nachgegangen bin. Es war eine Spurensuche, die sich über viele Stationen erstreckt hat.

Eine ziemlich verworrene Geschichte, die ich hier in Etappen berichte. Sie beginnt in Rostock, wo meine Großeltern Bernhard von Prittwitz und Gaffron und Helene, geborene von Jagow, 1921 unter keinem glücklichen Stern geheiratet haben. Nachdem meine Großmutter einen handfesten Skandal ausgelöst hatte, ist das junge Paar vom Familiensitz Mühnitz nach Schwundnig verbannt worden.

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