Mit dem 9-Euro-Ticket am Pfingstwochenende von Berlin nach Rosien. Eine fixe Idee meines Stiefbruders?
Mit dem 9-Euro-Ticket am Pfingstwochenende von Berlin nach Rosien. Eine fixe Idee meines Stiefbruders?

Mit dem 9-Euro-Ticket am Pfingstwochenende von Berlin nach Rosien. Eine fixe Idee meines Stiefbruders?

Mein Stiefbruder Michael von Seydlitz berichtet:

„Der rote Regio- Express nach Magdeburg ist schon bei der Einfahrt komplett belegt. Die Glücklichen, die sich auf den Sitzplätzen bereits einrichten konnten, sind mit sich selbst beschäftigt. Es ist 9 Uhr am Berliner Hauptbahnhof.

Die erste Tür öffnet sich. Normalerweise steigen jetzt Passagiere aus, das will an diesem Morgen aber niemand. Hier ist das Fahrradabteil. In dem Bereich stehen so viele Räder aufgereiht wie beim Zweirad-Center von Stadler, dazwischen drängen die Leute nach. Drei Mütter mit Kinderwagen im XXL-Format suchen Zugang, ein Anblick wie am Wannsee. Vor mir fachsimpeln zwei: „Das mit den Fahrrädern ist doch Mist“ und wollen dennoch rein. Eine Durchsage bittet, die Fahrräder innerhalb der Markierungen abzustellen. Ich trete zurück und dränge zur nächsten Tür. Hier ist kein Fahrrad nirgends und ich habe eine Idee. Mein Regio kommt ja erst noch. Ich wurzle hier fest und hoffe, dass der bitte genau an derselben Stelle stoppen wird, wo ich bin. Ich finde den Einfall toll, bin aber nicht allein. Vor mir bleiben Leute an der Bordsteinkante stehen, beratschlagen sich kurz, um weiterzueilen. Und dann kommt er, der Nahkampf. Ein größerer Mann baut sich neben mir auf und hält unablässig sein Handy ans Ohr, ohne jemals zu sprechen. Zwischendurch schaut er auf eine Bahn-App. Vielleicht ist er noch unentschlossen, wo er hinwill. Er kommt immer näher, wendet sich, schwenkt wieder um, und verdrängt für mein Empfinden Bruttoregistertonnen an Luft. Es wird eng. Die elektronische Stimme mahnt noch, nur die vorgeschriebene Anzahl Räder mitzunehmen. Als wenn darauf heute irgendjemand achten würde. Dann fährt Magdeburg ab.

Berlin Hbf 4. Juni 2022, 9 Uhr © MvS

Von hinten bis vorne, von unten bis oben ist am Gleis 14 alles voll. Unablässig gleiten immer mehr Menschen über die Rolltreppen im Hauptbahnhof nach. Es ist das erste Groß-Wochenende für das 9-Euro Experiment. Der Regio-Express nach Wismar fährt ein. Der ist für mich und er bleibt fast exakt dort stehen wie sein Vorgänger. Ich empfinde mich in der Pole Position, bin aufgeregt und steige schnell zu. Der Vorraum wirkt offener als er wirklich ist. Zu Pfingsten sei der Vergleich erlaubt, es ist nur eine Wasserscheide, die sich jeden Moment wieder schließen wird. Menschen, Taschen, Koffer stehen dicht gerückt und mustern uns beim Einsteigen. Manche grinsen. Die Stimmung scheint gut, das Einzige was fehlt, ist der Raum. In den Doppeldeckern sind alle Plätze besetzt bis zu den Treppen hinauf. Mir gelingt es zwischen zwei Paaren im Gang einen Stehplatz zu ergattern Es geht los. Viele lachen. Es ist ein Abenteuer und man freut sich darauf. Gegen das Chaos hat die Bahn Ordner eingesetzt, die in die Züge hineingeschaut haben, ab und zu eingreifen, aber wenig ausrichten. Die Polizei patrouilliert und hat nahe den Rolltreppen Posten bezogen. Mein Regio nach Wismar läuft aus. Auf dem Land Rosien besuchen, bin aber ziemlich genervt gewesen bei den Reisevorbereitungen, weil alle auf einmal von Sylt oder dem 9-€-Chaos sprechen.

Mein Sylt hieß im Augenblick Rosien. Ich hatte mich im Reisecenter der Bahn beraten lassen und ein Kombi gewählt. Hin mit dem 9€-Experiment, falls das irgendwie schiefgeht, zurück regulär. Als ich das Gesine mitteilte, meinte sie kühl, andersrum wäre besser. Und in der Tat, wir waren am Schalter ins Plaudern geraten und hatten darüber Pfingsten vergessen. Nachdem mir Gesine zu verstehen gegeben hatte, dass Pfingsten tatsächlich bevorstand, entschied ich mich, nur eine Schultertasche mitzunehmen. Leichtes Gepäck, das frische Brot vom Backwerk das ich mitbringe, passte auch hinein. Dann suchte ich nach Fluchtwegen. Hopp on, hopp off!

Regio nach Schwerin 4. Juni 2022 © MvS

Jetzt stehe ich im Gang. Wismar hat Fahrt aufgenommen, den Tiergarten erreicht, ein Display kündigt in roten Kreuzen Verspätung an. Der nächste Halt ist der Bahnhof Zoo. Eine Durchsage bereitet uns vor: Die Fahrgäste mögen doch bitte in die Mitte zusammenzurücken. Aber wie findet man zwischen zwei Stockwerken, die total verstopft, überfüllt und belagert sind, wo die Lüftung in Bälde überfordert zu sein scheint und die in den Öffentlichen Verkehrsmitteln obligatorisch zu tragenden Masken verrutschen werden, die Mitte? Ich habe mich entschieden. Hopp off!

Überraschung, weil jemand raus will, während am Steig Gedränge herrscht. ‘Ja, das gibt’s auch’, sage ich und steige über einen Berg Taschen. Freundliches Lachen. Ich laufe ein paar Schritte, sehe hinauf zur Bahnhofsuhr, bin guter Laune und empfinde es nach dem Erlebnis als komfortabel, dass ich nachhause fahren kann mit demselben Fahrschein. Ich gönne mir ein ausgiebiges Frühstück und gehe nicht ran als mein Handy klingelt. Gesines Schadensfreude kann warten.“

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